Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022 wird dem österreichischen Schriftsteller und unermüdlichen Aufklärer Karl-Markus Gauß für sein Buch „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“ verliehen.
Das Buch versammelt feinfühlige Geschichten von besonderen Orten und Menschen in Europa. Es erschien im Oktober 2020 im Paul Zsolnay Verlag Wien. Der Preis wird zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 16. März 2022 im Gewandhaus zu Leipzig verliehen. Die Laudatio hält die österreichische Germanistin, Literaturkritikerin und Essayistin Daniela Strigl.

Begründung der Jury

Europa? Wer heute an Europa denkt, dem fallen zunächst Verfallsgeschichten ein, Auflösungserscheinungen, Untergänge, verzankte und zerstrittene Parlamente, die auf nationalen Sonderrechten bestehen und die europäische Einigung aus dem Blick verloren haben. Und wenn von Vielfalt die Rede ist, dann fallen dem einen die aussterbenden Tierarten ein, dem anderen Käsesorten oder Reiseziele.

Wenn Karl-Markus Gauß an Europa denkt – und wahrscheinlich gibt es keinen Schriftsteller in Europa, der öfter und nachhaltiger über dieses kleine Gebiet westlich des russischen Reiches nachdenkt –, dann denkt er über die Minderheiten nach, die sich immer noch in den Rissen dieses einsturzgefährdeten Gebäudes halten: über die Bewohner der Zips und der Batschka, über die chaldäischen Christen in der syrisch-orthodoxen Kirche, die sich Assyrer nennen und möglicherweise im Nebenhaus wohnen, über die Aromunen, die eine eigenständige Sprache sprechen und im Norden Griechenlands, in Bulgarien, Nordmazedonien und Albanien leben, oder über die Roma, die in der Slowakei und überall da zu finden sind, wo man nicht nur die Paragrafen der Ausgrenzung, sondern die (ungeschriebenen) Gesetze der Gastfreundschaft kennt und ihnen einen Platz anbietet.

Alle diese Minderheiten mit ihren seltsamen Sitten, Sprachen, Gebräuchen, Literaturen und Religionen haben in Karl-Markus Gauß, der selbst aus einer sogenannten donauschwäbischen Familie kommt, ihren unermüdlichen, treuen, neugierigen, aufmerksamen Chronisten gefunden. Seit mehr als vierzig Jahren nimmt dieser für seine stilistischen Feinheiten gelobte, jedes besserwisserische Pathos meidende Reisende die kulturellen Verluste (besonders in Südosteuropa) wahr und hält ihnen den historisch angehäuften tatsächlichen Reichtum entgegen. Er leistet die Arbeit eines Sisyphos – das heißt, er weiß auch, dass trotz aller Anstrengungen der mühsam auf den Berg geschleppte Stein wieder hinunterrollt.

Wenn er nicht unterwegs ist, schreibt er in Salzburg Reiseberichte über seine unaufhörlichen Wanderungen, die in mehr als zehn Büchern vorliegen, oder er redigiert die literarische Zeitschrift „Literatur und Kritik“, die er schon seit mehr als dreißig Jahren herausgibt. Und wenn er mal das Haus hüten muss, dann begibt er sich auf eine „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“, eines seiner großartigen Bücher. Und da er offenbar wenig schläft, schreibt er auch noch umfangreiche Journale, die einen politisch wachen, parteipolitisch ungebundenen Zeitgenossen zeigen, der gottlob über so viel Ironie und Witz verfügt, dass man sich von ihm gerne in die Abgründe unserer Gesellschaft einführen lässt. Denn kaum einer hat sich so klar gegen Rechtspopulismus ausgesprochen und sich so deutlich für eine humane Flüchtlingspolitik eingesetzt.

Mit der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung wird ein großer europäischer Schriftsteller ausgezeichnet, der die glanzvolle Reihe mitteleuropäischer Preisträger von Aleksandar Tišma bis Claudio Magris fortführt.

Kritisch und fair: Die Jury

  • Skadi Jennicke (Bürgermeisterin für Kultur der Stadt Leipzig)
  • Michael Krüger (Autor, Verleger, Übersetzer, München)
  • Johannes Riis (Verleger, Kopenhagen)
  • Elisabeth Ruge (Autorin, Verlegerin, Literaturagentin, Berlin)
  • Daniela Strigl (Essayistin, Kritikerin, Dozentin, Wien)

Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung zählt zu den wichtigsten Literaturauszeichnungen in Deutschland. Er wird seit 1994 jährlich vergeben und ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preiskuratorium bilden der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und die Leipziger Messe.

 

Presseaussendung Leipziger Buchmesse