Es war vor gut vier Jahren, dass uns Lucinda Riley zum ersten Mal von ihrer schweren Erkrankung berichtete. Wir erschraken zutiefst, hatten aber mit Lucinda die Hoffnung, dass die Krankheit schon zu besiegen wäre. Seitdem gab es Phasen der Besserung, dann wieder bittere Rückschläge, Wechselbäder von Zuversicht und Besorgnis. Die ganze Zeit über hat Lucinda Riley unablässig an ihren Romanen geschrieben: an der Überarbeitung älterer Werke für Neuausgaben und, vor allem, an den Büchern ihres „Sieben-Schwestern“-Zyklus. Und sie war voller Pläne für künftige Projekte. Jetzt, wenige Wochen nachdem weltweit der siebte Band der „Sieben Schwestern“ erschienen ist, ist Lucinda Riley zu unserer Bestürzung völlig unerwartet ihrer Krankheit erlegen und vor wenigen Tagen im Kreis ihrer Familie verstorben.

Geschichten und Bücher faszinierten Lucinda Riley schon von Kindheit an. Doch zunächst besuchte sie, die Tochter einer Schauspielerin, eine Schauspielschule und arbeitete anschließend sieben Jahre für Theater und Fernsehen. Dann, während einer Erkrankung an Pfeifferschem Drüsenfieber, begann sie ihren ersten Roman zu schreiben: „Lovers and Players“, der 1992 unter ihrem Mädchennamen Lucinda Edmonds erschien. In der Folge veröffentlichte sie erfolgreich weitere Romane und durchlebte dabei zunächst Höhen, bald aber auch die Tiefen einer Autorinnenexistenz. Nach Jahren herber Enttäuschungen und frustrierender Erfahrungen gelang ihr schließlich 2010 mit „Das Orchideenhaus“, dem ersten Roman, den sie unter ihrem Ehenamen Lucinda Riley veröffentlichte, ein sensationeller Überraschungserfolg und der internationale Durchbruch. Zunächst im deutschsprachigen Raum, in Norwegen und Italien, dann in der Folge auch in ihrer angelsächsischen Heimat und weltweit. Seitdem stand jedes ihrer Bücher bei uns und in vielen anderen Ländern wochen-, monatelang an der Spitze der Bestsellerlisten. Und spätestens mit ihrem Romanzyklus „Die sieben Schwestern“ wurde sie zu einer Weltbestsellerautorin und einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Gegenwart.

Ich denke immer noch oft an den Moment, als Lucinda mir vor Jahren zum ersten Mal von ihrer Idee zu den „Sieben Schwestern“ erzählte. Während der Londoner Buchmesse waren wir zu einem Abendessen verabredet. Und irgendwann sagte Lucinda, dass sie jetzt gerne eine Zigarette rauchen würde. Wer Lucinda kannte, die als ehemalige Schauspielerin auch manchmal ihre Freude an kleinen Inszenierungen hatte, der wusste, dass sich hier etwas Gewichtigeres ankündigte als nur eine Zigarettenpause. Zusammen traten wir vor die Tür des Restaurants. In meiner Erinnerung regnete es draußen leicht und auf dem nassen Asphalt spiegelten sich die Lichter der Laternen und Häuser rund um uns, während der nächtliche Verkehr in stetem Takt gleichmütig an uns vorbeizog. Im Schutz des tiefen Türrahmens zündete sich Lucinda eine Zigarette an, und dann begann sie atemlos zu erzählen: von dem mythenumwobenen Sternbild der Seven Sisters und davon ausgehend von ihrem nächsten großen Projekt, das nichts Geringeres sein sollte als ein Zyklus von sieben Romanen um sieben adoptierte Töchter eines geheimnisumwitterten reichen Mannes. Sie sprach von einer bedeutsamen „armillary sphere“, die den Töchtern nach dem Tod des Adoptivvaters Hinweise auf ihre Herkunft geben sollte, und von vielem anderen mehr. Ich gestehe, ich verstand manches von dem, was sie sagte, beim besten Willen nicht: Ich hatte keine Ahnung, worum es sich bei dem Sternbild der Seven Sisters, geschweige denn bei den daran geknüpften antiken Mythen handelte, ebensowenig hatte ich eine Vorstellung, was eine „armillary sphere“ sein mochte. Was mich spontan aber zunächst eigentlich verunsicherte, war: das Projekt eines Zyklus von sieben Romanen erschien mir, vorsichtig gesagt, mehr als gewagt, und mir war denn auch einigermaßen mulmig bei dem Gedanken an die Herausforderung, die es für Lucinda, aber auch für uns als Verlag bedeuteten würde, dieses Projekt erfolgreich umzusetzen. Zugleich waren da freilich die unverkennbare Begeisterung Lucindas, das Feuer, die tiefe innere Überzeugung und die Leidenschaft, mit denen sie ihre Pläne für die Serie ausbreitete, das Herzblut, das in allem spürbar war, sodass mir damals rasch klar war: Diese Bücher muss Lucinda schlichtweg schreiben, unbedingt, alles andere ist undenkbar.

Diese „Zigarettenpause“ vor dem Restaurant in London: sie enthielt und enthält für mich in nuce vieles von Lucindas Wesen: ihr lebendiges Temperament, ihre Ruhelosigkeit, die passionierte Hingabe an ihre Projekte, die Unbedingtheit ihres Schreibens, die rückhaltlose Bereitschaft, alle Risiken einzugehen, um ihre Vision zu verwirklichen, ihr kreative Unruhe und Umtriebigkeit. Sie, die immer so gerne unterwegs war und reisen und die Welt erkunden wollte, wollte auch im Schreiben nie stehenbleiben, suchte unentwegt neue Herausforderungen, wollte sich ein ums andere Mal schreibend neue Horizonte erschließen. Wer sie länger kannte, der ahnte freilich auch, dass sie, die Weltenbummlerin par excellence, gleichzeitig auch immer Halte- und Ruhepunkte für sich suchte: bei ihrer Familie, in den Refugien ihrer Häuser in Norfolk und Irland, bei vertrauten Personen, im Zuspruch von Leserinnen und Lesern und nicht zuletzt in der „Heimat“, die sie in ihren internationalen Verlagen fand, denen sie sich fast allen über all die Jahre treu verbunden fühlte.
Wer Lucinda Riley öfter begegnete oder wer sie auf einer ihrer Lesereisen, z. B. hierzulande mehrfach mit Günter Keil, Anouk Schollähn und Dennenesch Zoudé, erlebte – Lesereisen, die Besucherinnen und Besucher begeisterten und die im Verlag bis heute legendär sind –, der wurde angesteckt von der überschäumenden Energie und Lebhaftigkeit Lucindas, von ihren Entertainerqualitäten, ihrer Herzlichkeit und ihrer Gabe zur Selbstironie. Sie war eine beeindruckend starke Person, und doch gab es Momente, in denen man ahnte, dass sie im Innersten auch verletzlich sein konnte und dass ihr, ungeachtet allen Selbstbewusstseins, gelegentliche Zweifel und Unsicherheit nicht unbekannt waren.

„Die sieben Schwestern“ spiegeln in immer neuen Facetten diese unterschiedlichen Wesenszüge Lucindas. Das macht diesen Zyklus, wie alle ihre Bücher, so authentisch. Das spüren ihre Leserinnen und Leser, und ich bin sicher, das macht einen großen Teil des Erfolgs ihrer Romane aus. Lucinda Riley ist gewiss eine einzigartige Geschichtenerzählerin. Ihre Romane sind präzise recherchiert, sie sind vielschichtig und entführen die Leserinnen und Leser in nahe und ferne Zeiten, nahe und ferne Welten. Sie umkreisen Musik, Tanz, Kunst, Literatur und vieles andere mehr, sie tauchen tief ein in die Ambivalenzen und Abgründe der menschlichen Psyche, und sie wiederholen sich dabei nie. Vor allem aber sind sie ehrlich, authentisch, ernsthaft und warmherzig geschrieben, voll psychologischen Einfühlungsverm?gens und Respekts für ihre Figuren, ob sie reich sind oder arm, stark oder schwach, auf Anhieb sympathisch oder nicht.
Die Protagonistinnen der „Sieben-Schwestern“-Serie, Ally, CeCe, Elektra, Maia, Star, Tiggy und Mary, die verschwundene Schwester, sie alle sind genuin heutige, moderne Frauen, Töchter einer globalisierten Welt, auf den unterschiedlichsten Kontinenten zu Hause. Aber spätestens nach dem Tod ihres Adoptivvaters sind sie zugleich von einer tiefen Sehnsucht getrieben, das Geheimnis ihrer Herkunft zu entschlüsseln und einen Anker, eine seelische Heimat für sich zu finden. Sie begeben sich auf ihre „Quest“, auf Reisen rund um die Welt, und schnell wird die externe Reise auch zu einer Reise nach Innen. Was jede der Schwestern antreibt, ist mehr als die Frage nach ihrer Herkunft; es ist die Frage nach ihrer Identität, danach, wer sie ist und was und wer und wie sie sein möchte.

Wenn ich an Lucinda Riley und ihre Bücher denke, dann kommen mir immer ein paar Zeilen aus „Ruby Tuesday“, einem der schönsten Songs der Rolling Stones, in den Sinn. Die Stones besingen darin Ruby, ein Mädchen bzw. eine Frau, von der niemand sagen kann, „where she came from”. Die geheimnisvolle Ruby weiß einiges über das Leben. „There’s no time to lose, I heard her say“, heißt es zum Beispiel, „catch your dreams before they slip away, dying all the time, lose your dreams, and you will lose your mind.“ – „Catch your dreams“: Vielleicht kann man das, was Lucinda Riley angetrieben hat, was das Wesen ihrer Bücher und Protagonistinnen im Kern ausmacht, nicht besser beschreiben als mit diesen Worten.

Lucinda Riley konnte den Zyklus der „Sieben Schwestern“ noch abschließen. Wohl aber nicht mehr einen noch geplanten achten Band über Pa Salt, den Adoptivvater der sieben Schwestern, der den Titel „Atlas“ tragen sollte. Aber sie hat das Erscheinen des siebten Bandes, „Die verschwundene Schwester“, und den riesigen Erfolg auch dieses Buches noch erlebt. „Ain’t life unkind?“, heißt es an anderer Stelle in „Ruby Tuesday“. Ja, es kann „unkind“ sein, und tragisch und grausam obendrein. Lucindas Lebenslicht ist jetzt erloschen. Aber ihr Stern leuchtet weiter – in ihren Büchern, in den Herzen ihrer Leserinnen und Leser und irgendwo auch da oben bei den Plejaden vielleicht, im Sternenkreis der Seven Sisters.

 

Georg Reuchlein, Goldmann-Verleger bis 2018

 

Aussendung Goldmann Verlag