Bruno Kreisky sagte über sich, er habe auch als Bundeskanzler der Republik „unerbittlich daran festgehalten, abends eine Stunde Zeit zum Lesen zu haben“. So habe er neue Einsichten gewonnen, die ihm halfen, ungewohnte Aspekte für die Politik zu formulieren. Dieser Inspiration folgend wird seit 1993 der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch verliehen. Jährlich wird damit vom Karl-Renner-Institut in Zusammenarbeit mit dem SPÖ-Parlamentsklub und der sozialdemokratischen Bildungsorganisation politische Literatur ausgezeichnet.

Den Hauptpreis für das Politische Buch des Jahres 2023 erhält Herfried Münkler für „Welt in Aufruhr“ (Rowohlt, 2023). Der Preis für das publizistische Gesamtwerk wird heuer an Tom Segev vergeben. Die Preisverleihungen finden im ersten Halbjahr 2024 in Wien statt.

Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch

„Wir stürzen in eine neue Weltordnung“, so beschreibt der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler kurz und prägnant die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sichtbar gewordenen globalen Verhältnisse. Mit „Welt in Aufruhr“ legt er nun seine geopolitischen Analysen des Ist-Zustands und ein Gedankenexperiment über ein mögliches Szenario für planvolles und zielgerichtetes Gestalten des Machtgefüges der nahen Zukunft vor. Ein neues System regionaler Einflusszonen, das von fünf Großmächten dominiert wird, beschreibt er in seinem Werk. Auf der demokratischen Seite sieht er die USA und Europa. Das autoritäre Gegenüber seien Russland und China. Die Rolle als „Zünglein an der Waage“ schreibt Münkler Indien zu. Alle diese Mächte werden schwierige Ordnungsaufgaben übernehmen müssen, um in der eigenen Einflusssphäre für Stabilität sorgen zu können und in einer prekären Welt voller Risken eine völlige Eskalation zu vermeiden.

Das Buch spannt einen großen Bogen in der Geistesgeschichte auf, um große Bruchlinien der Gegenwart fassbar zu machen. Es ist ein wichtiger Beitrag dazu, neue Friedensordnungen zu entwickeln, die einer Welt im Aufruhr standhalten.

Preis für das publizistische Gesamtwerk

Der Preis für das publizistische Gesamtwerk wird heuer an den israelischen Historiker und Journalisten Tom Segev vergeben. Er steht epochenprägend für eine Geschichtswissenschaft, die selbstverständliche Meinungen zu entscheidenden Momenten in der israelischen Geschichte in Zweifel zog und so neue Perspektiven eröffnete. Sein Blick auf die Situation im Nahen Osten ist ernüchternd, jedoch auch in der Lage, Position zu beziehen, abzuwägen und dennoch Intentionen und Bedürfnisse beider Konfliktparteien sichtbar zu machen. Stets trat er für mehr Demokratie, Bürgerrechte und Gleichheit für die palästinensischen Bürger:innen Israels ein. Der Autor Tom Segev hat stets den Blick für das große Ganze, aufbauend auf reicher Sachkenntnis, durch persönliche Erfahrung und umfassendes Quellenstudium. Die Fähigkeit, packend zu schreiben, macht seine Bücher nicht nur zur Quelle großen Sachwissens und zur Orientierungshilfe in komplexen politischen Situationen, sondern auch zur spannenden Lektüre.

Die weiteren Preisträger:innen im Überblick

Der Sonderpreis „Arbeitswelten – Bildungswelten“ geht an Birgit Birnbachers Roman „Wovon wir leben“ (Zsolnay, 2023). Die Bachmannpreisträgerin arbeitete als Sozialarbeiterin und Soziologin in der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit. Daraus resultiert zum einen die Fähigkeit, gesellschaftliches Geschehen strukturiert beschreiben zu können, und zum anderen eine auf unmittelbarem Erleben fußende Empathie für die Alltagsnöte nichtprivilegierter Menschen. In „Wovon wir leben“ passiert Krankenschwester Julia ein schwerwiegender Fehler, dem sie versucht zu entkommen, indem sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Dort wird uns das scheinbar unkaputtbare Gehäuse materieller und sozialer Zwänge, von denen es für Frauen immer noch einige mehr gibt, vor Augen geführt. Lebens-, Arbeits- und Geschlechterverhältnisse der Nachteile und Ungerechtigkeiten für die Vielen bestehen dort offensichtlich unveränderlich fort. Birnbacher verliert bei der Beschreibung dieser österreichischen Alltagswelt weder Distanz noch Empathie und – man glaubt es kaum – auch nie ihren Humor.

Der Anerkennungspreis wird heuer an Susan Neiman für ihre Schrift „Links ist nicht woke“ (Hanser Berlin, 2023) vergeben. Die US-amerikanische Philosophin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam wagt sich auf das brüchige Eis der Identitätsdebatte, um die Prinzipien der Aufklärung – Universalität, Gerechtigkeit und Fortschritt – zu revitalisieren. Liegt die Zukunft der Linken weiterhin in ihrem Kampf dafür, dass Rechte für alle Menschen gleichermaßen gelten sollen und sozioökonomische Verhältnisse kritisiert werden müssen? Oder soll sie vor allem kulturell um höhere Anerkennung und um die Stärkung gesellschaftlichen Einflusses spezifischer benachteiligter Gruppen kämpfen? Universalismus versus Partikularismus? Diese Schrift versteht sich als Diskussionsbeitrag, der Denkansätze bietet, um durch eine kritische Neubewertung der Ideen der universalistischen Aufklärung einer wenig zweckdienlichen und viel zu oberflächlichen Entweder-oder-Debatte zu entkommen.

Der Sonderpreis für besondere verlegerische Leistungen geht an den Verlag „Das vergessene Buch“. Dieser bemerkenswerte Einmannbetrieb wurde von dem Literaturwissenschafter Albert C. Eibl im Jahr 2014 gegründet und ist heute ein erfolgreicher Nischenverlag. Als solcher gibt er herausragende Werke der deutschsprachigen Literatur heraus, die – oft aus politischen Gründen – zu Unrecht vergessen wurden. Damit gelingt es dem Verleger immer wieder aufs Neue, die deutschsprachige Bücherwelt gegen liebgewonnene Gewohnheiten zu bürsten und beachtliche Erfolge zu feiern. Ohne seine Verlagsgründung hätte Maria Lazars 2020 erstmals wiederentdeckter Roman „Leben verboten“ nicht den Stellenwert bekommen, den er heute in der Literatur hat. Unorthodoxe Ideen und mutiges Engagement des Verlages geben dem deutschsprachigen Büchermarkt wichtige Impulse für eine herausfordernde Zukunft.

 

Presseaussendung Karl-Renner-Institut / Red.